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Tod und Trauer in Judentum
Wenn der Mensch im Sterben liegt, so ist es erstrebenswert, dass er das Sündenbekenntnis spricht, bzw. mit Personen, die an seinem Lager beten, mitspricht und dass er als letztes das Glaubensbekenntnis „Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig“ (5. B. Mosche, 6, 4) rezitiert. Mit dem Eintritt des Todes beginnt für die nahen Angehörigen, Gatten oder Gattin, Eltern, Geschwister, Kinder, eine Trauerzeit (hebräisch: Aninut), die die Periode bis zur Bestattung umfasst. Dieser Personenkreis ist von jeder religiösen Pflicht befreit, braucht nicht zu beten und kann sich ganz seiner Trauer hingeben. Zum großen Teil hat diese Vorschrift den Sinn, dass auf diese Weise den Angehörigen die nötige Zeit gegeben wird, sich um die Bestattung zu kümmern. Allerdings ist ihnen diese Verpflichtung heute durch eine Institution abgenommen, die es in fast allen Gemeinden gibt, die sogenannte Chewra Kadischa (Heilige Genossenschaft). In Chewra Kadischa befassen sich Männer und auch Frauen ehrenamtlich mit der Betreuung von Kranken und auch Toten. Mitglied Chewra Kadischa zu sein gilt als besondere Mizwa, als eine fromme Pflicht. Diese Vereinigungen übernehmen es nun, den Toten für die Bestattung vorzubereiten. Dazu gehört die Waschung des Toten, die Bekleidung mit der Totenkleidung, einem langen weißen Gewand, das viele Männer schon zu Lebzeiten besitzen, und einer weißen Kopfbedeckung.
Der Mann bekommt seinen Tallit, den Gebetmantel, mit ins Grab, wobei aber an einer Ecke die Schaufaden entfernt werden, weil sie ja den Menschen an die Ausübung religiöser Pflichten erinnern sollen, die der Tote ohnehin nicht mehr erfüllen kann. Für die Verrichtungen, die die Mitglieder der Chewra Kadischa an dem Toten meist in einem Raum auf dem Friedhofsgelände vornehmen, gibt es ganz genaue Richtlinien, die peinlich befolgt werden müssen. Wesentlich ist, dass die gesamte Zeremonie für alle gleich ist. Jeder oder jede bekommt das gleiche Gewand, jeder bekommt den gleichen ganz einfachen Sarg, der von der Gemeinde geliefert wird. Jeglicher Pomp bei der Bestattung und bei allem, was mit ihr zusammenhangt, ist untersagt.
Die Friedhofe werden als Bet ha-chajjim (Ort des Lebens), oder Bet ha-olam (Ort der Ewigkeit) bezeichnet. Feuerbestattung ist nicht sehr verbreitet. Im gesetzestreuen Judentum ist sie untersagt, während sie in liberaleren Kreisen vorkommt.
Die Bestattungszeremonie beginnt mit einer Trauerfeier auf dem Friedhof in einem dafür vorgesehenen Raum. Es wird - meist nach einem einleitenden Gesang des Kantors - eine Trauerrede von einem Rabbiner gehalten; oft sprechen außerdem noch andere Personen. Es gilt als unstatthaft, einem Verstorbenen das ihm gebührende Lob zu verweigern. Allerdings kann sich der Verstorbene noch zu Lebzeiten Reden verbeten haben. Insofern ist also eine Rede nicht obligatorisсh. Dann folgt ein Gebet, das als Zidduk ha-din (Anerkennung der göttlichen Gerechtigkeit,) bezeichnet wird. Sein Kerngedanke besteht darin, dass Leben und Tod in der Hand Gottes liegt, dessen Entscheidung immer richtig ist: „Gott hat gegeben und Gott hat genommen: der Name Gottes sei gelobt“ (Hiob 1, 21)
Zu manchen Zeiten des Jahres wird dieses Gebet durch Psalm 16 ersetzt, der analoge Gedanken enthalt. Daran schließt sich dann ein Gebet für das Seelenheil des Toten; seine Seele möge Ruhe und Frieden finden. Dann wird von den Trauernden, den nahen Verwandten des Verstorbenen, die sogenannte Kria vorgenommen, sofern sie nicht gleich nach dem Tode ausgeführt wird. Die Kria ist ein Riss: Zum Zeichen der Trauer zerreißt man seine Kleider. Dafür gibt es feste Regeln, indem für die Eltern auf der linken Seite, für andere nahe Angehörige auf der rechten Seite vom Halse an ein Stuck senkrecht eingerissen wird und sieben Tage, bzw. für die Eltern dreißig Tage, nicht vernäht werden darf. Auf diese Weise soll der Schmerz nach außen sichtbar gemacht werden; zum Zeichen für den Riss im Herzen wird ein Riss in die Gewänder gemacht. Danach wird der Sarg zu dem bereits vorher ausgehobenen Grabe gebracht. Der Gang von der Trauerfeier zum Grabe wird mehrmals unterbrochen, um die Mühsal dieses Weges anzuzeigen, wobei der 91. Psalm rezitiert wird. Nachdem man die Grabstelle erreicht hat, wird der Sarg hinabgelassen. Alle Anwesenden werfen drei Hände Erde auf den Sarg, wobei sie jedes Mal sagen: „Von Staub bist du und zum Staube wirst du zurückkehren“ (1. Buch Mosche 3, 19), was Gott seinerzeit zu Adam gesagt hatte, als er ihn und seine Frau aus dem Paradies vertrieb. Wenn der Sarg völlig von Erde bedeckt ist, sprechen die Versammelten das Kadischgebet, das auch in Gottesdiensten ständig zum Totengedenken gesagt wird, obwohl es inhaltlich mit den Tode nichts zu tun hat, sondern ausschließlich ein Lob Gottes enthalt. Dann sagt man den Trauernden tröstende Worte, wofür es eine feste Formel gibt. Bevor man den Friedhof verlässt, wascht man sich die Hände. Die Vorstellung, dass die Berührung eines Toten verunreinigt, wird so weit ausgelegt, dass jeder Besuch eines Friedhofs eine Händewaschung erforderlich macht. Vielfach ist es üblich, vorher noch etwas Gras auszureißen und es hinter sich zu werfen, um damit anzudeuten, dass dereinst die Toten auferstehen werden wie das Gras auf dem Felde. Es gilt als verdienstlich, vor dem Verlassen des Friedhofs Almosen zu geben, weil Wohltätigkeit vor dem Tode errettet. Zu diesem Behufe sind am Friedhofsausgang meist Sammelbüchsen aufgestellt.
Jüdische Gräber dürfen niemals eingeebnet werden, um für eine erneute Belegung Platz zu schaffen; sie haben Bestand für alle Zeiten. Dadurch sind jüdische Friedhofe eine wichtige historische Quelle, „und zwar unter zwei Gesichtswinkeln: Die Grabdenkmaler können als kunstgeschichtliche Zeugnisse ausgewertet werden. Die Grabinschriften bewahren sich als Quellen für jüdische Geschichte. „Sie sind quasi „steinerne Urkunden, die auch darum von einzigartigem historischem Wert [sind], weil für Juden eine relevante Quellenkategorie nicht existiert, die für Christen verfügbar ist: Kirchenbucher“ (Hermann Simon)
Mit der Beerdigung endet der erste Trauerzustand, während dessen die Hinterbliebenen von allen religiösen Pflichten entbunden sind, und es beginnt die Trauerzeit, die in mehrere Abschnitte zerfallt: Zunächst die Trauerwoche (Schiwa), dann der Trauermonat (Schloschim) und schließlich, nur nach dem Tod der Eltern, das Trauerjahr. Für die Schiwa besteht die Vorschrift, das Haus nicht zu verlassen, keine festen Schuhe zu tragen und auf niedrigen Schemeln zu sitzen. Berufstätigkeit soll man nicht ausüben und soll sich auch nicht mit dem Studium der Tora beschäftigen, weil das als eine Freude erachtet wird. Darüber hinaus sollten die Trauernden Handlungen vermeiden, die dem Körper nicht unbedingt notwendiges Behagen verschaffen. Daher ist es vielfach üblich, dass männliche Trauernde sich nicht rasieren.
Der Trauernde soll sich um nichts sorgen müssen; darum ist es üblich, dass Freunde und Bekannte gekochtes Essen bringen. Die Jüdische Gemeinde kümmert sich darum, ob die Familie durch den Todesfall bzw. durch das Unterlassen der Berufsausübung in finanzielle Schwierigkeiten gerat, wobei man darauf Wert legt, die Betreffenden nicht zu beschämen. Um das zu vermeiden, hat man - jedenfalls in Berlin und an vielen anderen Orten war das üblich - ein spezielles System entwickelt: Der trauernden Familie werden zwei gefüllte Sparbüchsen ins Haus gebracht, und zu einer von beiden wird ein Schlüssel mitgeliefert. Die Leidtragenden offenen nun diese eine Büchse und entnehmen ihr den darin vorhandenen Geldbetrag. Je nachdem, ob sie des Geldes bedürfen oder nicht, verfahren sie nun. Entweder behalten sie es ganz oder teilweise, oder sie tun es in die andere, verschlossene Büchse. Sie können auch noch mehr hineintun als in der geöffneten enthalten war. Die Büchsen werden wieder abgeholt; die eine ist leer und offen, die andere ist voll und zugeschlossen, und niemand weiß, ob die betreffende Familie genommen oder gegeben hat.
Die siebentägige Trauerwoche dauert niemals volle sieben Tage, da der Tag der Beerdigung mitgerechnet wird, obwohl an ihm die Schiwa erst eine Stunde vor dem Einbruch der Nacht beginnt; ebenso rechnet der siebente Tag als voller Tag, wenngleich die Schiwa kurz nach dem Morgengebet beschlossen wird. Der Sabbat unterbricht die Schiwa, denn am Sabbat soll alle Trauer schweigen. Die Trauernden besuchen die Synagoge; sie werden beim Freitagabend-Gottesdienst in den Raum geführt - meist vom Rabbiner und dem Vorbeter -, wobei ihnen noch einmal das Beileid der Gemeinde ausgesprochen wird. Im Trauerhause pflegt man während der Schiwa ein Licht brennen zu lassen oder auch während des Trauermonats.
Wenn die Zeit der strengen Trauerbrauche beendet ist, beginnt eine Epoche, die als Schloschim bezeichnet wird, der Trauermonat, in den die Schiwa mit eingerechnet wird. Während der Schloschim verläuft das Leben wieder einigermaßen normal, allerdings vermeidet man Lustbarkeiten. Männliche Leidtragende gehen täglich zum Gottesdienst, um Kadisch zu sagen.
Ein Mann, der seine Frau verloren hat, oder eine Frau, die Witwe geworden ist, darf nicht gleich nach dem Ende des Trauermonats von neuem heiraten, sondern sie müssen eine längere Zeit verstreichen lassen; eine Witwe drei Monate, ein Witwer noch mehr. Nur wenn der Witwer kleine Kinder hat oder seine Ehe kinderlos blieb, darf er unmittelbar nach dem Ende des Trauermonats eine neue Ehe schließen.
Nach dem Tod von Eltern dauert die Trauerzeit ein Jahr; Kinder, die ihre Eltern verloren haben, meiden während dieser Zeit alle Veranstaltungen, die ausschließlich dem Vergnügen dienen. Kadisch wird von Söhnen elf Monate lang täglich im Gemeindegottesdienst gesagt, im 12. Monat nicht mehr. Wenn keine in religiöser Hinsicht volljährigen Sohnen vorhanden sind, kann ein anderer Angehöriger diese Pflicht übernehmen. In der Frage, ob in einem Schaltjahr das Trauerjahr 12 oder 13 Monate dauert, sind die Meinungen geteilt, meist steht man aber auf dem Standpunkt, dass es sich in allen Fällen um 12 Monate der Trauer handelt.
Der erste Jahrestag der Beerdigung wird im deutsch-jüdischen Sprachgebrauch als »Johrzeit« bezeichnet. An diesem Tag des Verstorbenen zu gedenken, hat sich wohl auch zuerst im 15. Jahrhundert bei den deutschen Juden eingebürgert und von dort aus verbreitet, so dass mit der Sitte auch der Name heute allgemein üblich geworden ist. Das Wort »Johrzeit* ist sogar als Vokabel in die hebräische Sprache eingegangen. Am Tage der Johrzeit wird, wie während der Trauerwoche und des Trauermonat, im Hause ein Licht entzündet, das 24 Stunden brennt, und an diesem ersten Jahrestag pflegt man mit einem Minjan, also mit 10 religiös mündigen männlichen Personen, das Grab zu besuchen, um dort Kadisch zu sagen. Die Johrzeit wird dann in allen folgenden Jahren nicht mehr am Beerdigungstag, sondern jeweils am Todestag (nach jüdischem Datum) begangen.
Hierzulande wird, wenn das Trauerjahr beendet ist, der Grabstein gesetzt. Als Inschriften findet man häufig „po nitman/nitmena“, die „hier ist begraben“ stehen. Am Schluss der Grabinschrift sieht man oft die Abkürzung „Tehi nafscho/nafscha zrura bizror ha-chajjim“, die ausgeschrieben »Möge seine/ihre Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens« lautet. Auf alten Grabsteinen sieht man oft Abbildungen, wie z. B. Hirsch oder Löwe, die auf den Namen des Verstorbenen hinweisen. Das Symbol der segnenden Hände weist auf einen Kohen, einen Angehörigen der Priesterkaste hin und die Kanne auf einen Nachfahren des Stammes Levi, dessen Mitglieder den Priestern im Tempel das Wasser für Waschungen reichten.
Das Niederlegen und Pflanzen von Blumenschmuck beim Besuch des Grabes entspricht nicht jüdischem Brauch, fand jedoch in der Neuzeit in weniger gesetzestreuen Kreisen Verbreitung. Traditionell legt man zum Zeichen des Gedenkens an den Verstorbenen einen kleinen Stein auf den Grabstein.
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